02. Juli 2024 | „Sein ist immer auch verwoben-sein, wir können nicht einfach nur für uns selbst sein“, sagte der bekannte Zen Meister Thich Nhat Hanh und erinnert uns damit an die Verbundenheit allen Lebens. Seine poetischen Gedanken zu einem dünnen Blatt Papier, in dem das ganze Universum steckt, sind eine greifbare Herleitung der Bedeutung des Wortes „Interbeing“, das er im Kontext des Engaged Buddhism in die Welt brachte: Ohne Wolken, kein Regen, ohne Regen, keine Bäume, ohne Bäume, kein Papier. Die Wolke und das Papier sind eins – genau wie du und die Wolke eins sind, wenn du dich auf das Gedankenexperiment einlässt.

Wolkenhimmel

Der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh war Friedensaktivist und der Meinung, dass eine spirituelle Praxis die Basis für alle sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen ist. Es ist schon spannend: Gerade wenn mir die Gesellschaft wieder besonders verrückt erscheint und ich großen Weltschmerz fühle, zieht es mich immer besonders zu den Lehren des Buddhismus. Vielleicht liegt es daran, dass hier die Praxis des Mitgefühls so fein und zentral vermittelt wird. Auch im Yoga wird mit den „Yamas“ und „Niyamas“ in Patanjalis Yogasutra die ethische Praxis für unseren Umgang mit uns selbst und mit der Umwelt beschrieben. „Im Buddhismus, sowie in allen großen Weltreligionen, führen die Verkörperung ethischer Prinzipien und die Anwendung von Achtsamkeit im Alltag zu einer mitfühlenderen Gesellschaft, eine, in der die Heiligkeit aller Dinge – ob klein oder groß – offenbart wird“, schreibt es Fred Eppsteiner so schön im Vorwort zu Thich Nhat Hanhs Buch „Interbeing. The 14 Mindfulness Trainings of Engaged Buddhism“.

Intersein: Die 14 Achtsamkeitsübungen

Zu diesen 14 Achtsameitsübungen als angewandte Ethik gehören:

  1. Offenheit
  2. Nicht anhaften an Ansichten
  3. Freiheit des Denkens
  4. Bewusstheit für das Leiden
  5. Mitfühlendes, gesundes Leben
  6. Gesunder Umgang mit Wut
  7. Glücklich leben im gegenwärtigen Augenblick
  8. Wahrhaftige Gemeinschaft und Kommunikation
  9. Ehrliches, aufrichtiges und liebevolles Sprechen
  10. Die Gemeinschaft schützen und nähren
  11. Rechter Lebenserwerb
  12. Ehrfurcht vor dem Leben
  13. Großzügigkeit
  14. Wahre Liebe

Wenn ich mich an sie erinnere und mich geistig in den Modus von Interbeing „einwählen“, wird mein Weltschmerz milder und ich hab das Gefühl, machtvoll zu sein. Denn Interbeing bedeutet auch, dass meine Gedanken, Handlungen und Nichthandlungen immer auch einen Einfluss haben auf das große Ganze, und dass ich ein kleines aber wichtiges Rädchen bin, das sehr wohl Dinge verändern kann. Also entscheide ich mich für Verbundenheit. Immer und immer wieder, wenn ich mich daran erinnere.

Die 10. Achtsamkeitsübung „Die Gemeinschaft schützen und nähren“ hat mich besonders berührt, hier ein Teil der Ausführungen dazu in meiner eigenen Übersetzung. „Wir sind committed zu lernen mit den Augen des Interseins zu schauen und uns selbst und andere als Zelle im Körper einer Gemeinschaft zu sehen. (…) Wir schaffen aktiv Bruderschaft und Schwesternschaft, fließen wie ein Fluss, und üben, die drei wichtigen Kompetenzen zu entwickeln, um kollektives Erwachen zu ermöglichen: Liebe, Verstehen, und das Loslassen von Anhaftungen.“

Die folgenden Gedanken von Thich Nhat Hanh stammen aus dem Buch Peace is Every Step. The Path of Mindfulness in Everyday Life (hier in deutscher Übersetzung). Ich finde das Bild vom Blatt Papier, in dem das ganze Universum enthalten ist, besonders inspirierend – vielleicht bewegt es dich auch:

Interbeing – von Thich Nhat Hanh

Wenn du ein Dichter bist, wirst du klar erkennen, dass eine Wolke in diesem Blatt Papier steckt. Ohne die Wolke gibt es keinen Regen; ohne Regen können keine Bäume wachsen und ohne Bäume können wir kein Papier herstellen. Die Wolke ist wesentlich für die Existenz von Papier. Wenn die Wolke fehlt, gibt es auch kein Blatt Papier. Also können wir sagen, dass die Wolke und das Papier verwoben sind.

Wenn wir das Papier noch gründlicher untersuchen, können wir den Sonnenschein darin finden. Ohne Sonnenschein kann der Wald nicht wachsen. Tatsächlich kann nichts ohne Sonnenschein wachsen. So wissen wir, dass auch der Sonnenschein in diesem Blatt Papier ist. Das Papier und der Sonnenschein sind verwoben. Und wenn wir weiter schauen, können wir den Holzfäller sehen, der den Baum gefällt hat und ihn zur Papiermühle brachte. Und wir sehen Weizen. Wir wissen, dass der Holzfäller nicht ohne sein täglich Brot sein kann, und daher ist auch der Weizen, aus dem sein Brot gemacht wurde in diesem Papier. Der Vater und die Mutter des Holzfällers sind auch da drin. Und wenn wir so schauen, können wir sehen, dass es das Papier ohne alle diese Dinge nicht geben würde.

Wenn wir noch gründlicher schauen, können wir uns selbst in diesem Papier sehen. Es ist nicht schwierig, dann wenn wir das Blatt Papier ansehen, ist es ein Teil unserer Wahrnehmung. Dein Geist ist hier und meiner ebenso. Deshalb können wir sagen, dass alles hier drin ist in diesem Blatt Papier. Wir können nichts finden, was nicht da drin wäre – Zeit, Raum, die Erde, der Regen, die Mineralien des Bodens, die Sonnenschein, die Wolke, der Fluss und die Hitze. Alles koexistiert in diesem Blatt Papier. „Sein“ ist immer auch verwoben-sein, wir können nicht einfach nur für uns selbst sein. Wir müssen mit jedem anderen Ding verwoben-sein. Dieses Blatt Papier ist, weil alles andere auch ist.

Nehmen wir mal an, dass wir eines seiner Bestandteile seinem Ursprung zurückgeben. Lasst uns den Sonnenschein der Sonne zurückgeben. Meinst du, dass dieses Blatt Papier möglich wäre? Nein, ohne Sonnenschein kann nichts sein. Und wenn wir den Holzfäller seiner Mutter zurückgeben, dann haben wir auch kein Blatt Papier. Tatsache ist, dass dieses Blatt Papier nur aus „papierfremden“ Bestandteilen besteht. Wenn wir diese papier- fremden Bestandteile ihren Ursprüngen zurückgeben, entsteht überhaupt kein Papier. Ohne papierfremde Bestandteile, wie den Geist, den Holzfäller, den Sonnenschein und so weiter gibt es kein Papier. So dünn wie dieses Blatt Papier auch ist, enthält es doch alle Dinge des Universums.

In diesem Sinne: Du bist, weil alles andere auch ist.

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Von Janine Schneider

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